Wer die Methode des Klarträumens beherrscht, kann seine nächtlichen Fantasien steuern wie ein Regisseur. Mehr und mehr wird darüber bekannt, wie sich die Technik gezielt erlernen und nutzen lässt, um seelische Belastungen abzuschütteln und im Schlaf ein neues Ich zu entdecken.
Wie wäre das? Völlig frei darüber entscheiden zu können, ob die nächste Reise auf einer Yacht an den Pazifik geht oder im Cockpit einer Rakete zur Internationalen Raumstation. Ob ein Abenteuer mit einem Faustkampf im Saloon endet oder auf dem Gipfel eines Achttausenders. Ob das Menü am Abend Goldspäne enthält oder den Extrakt einer noch unbekannten tropischen Pflanze. Was wie Fantasterei klingt, ist manchen Menschen möglich, zumindest in den frühen Morgenstunden, wenn ihr Geist sich in einem merkwürdigen Zustand zwischen Schlafen und Wachsein befindet – und in der Lage ist, Trauminhalte bewusst zu steuern.
Oneironauten (von griech. oneiros, Traum; nautes, Seefahrer) werden diese Weltenwandler genannt. Sie erleben das oft surreale Geschehen ihrer nächtlichen Fantasie nicht wie andere als eine Art Film, dem sie weitgehend passiv zuschauen, sondern agieren gleichsam als Regisseure ihrer eigenen Traumwelt. Sie sind – obwohl sie schlafen – fast völlig bei Bewusstsein, wissen genau, dass sie träumen und dass sie Herren ihrer Fantasie sind. Dieser Geisteszustand erlaubt es ihnen, die erstaunlichsten Dinge zu erleben: aufregenden Sex, waghalsige Flugmanöver, fantasievolle Kreativ-Sessions. Aber auch, sich ihren ureigenen Ängsten zu stellen, gefahrlos dem zu begegnen, was in den Tiefen der Seele womöglich an Ungemach schlummert. Wissenschaftliches Pionierfeld mit riesigem Potenzial Nicht zuletzt deshalb beschäftigt sich inzwischen auch die Wissenschaft mit dieser Fähigkeit, die sie „Klarträumen“ oder „luzides Träumen“ nennen. Denn abgesehen davon, dass sich Oneironauten im Schlaf von Zeit zu Zeit ihre eigenen Träume erfüllen, erkennen etwa manche Psychologinnen in der Fähigkeit, klar zu träumen, ein therapeutisches Potenzial.
Schließlich kämpfen viele Menschen, die etwa Traumatisches erlebt haben, mit Gefühlen von Ohnmacht und Schwäche, empfinden sich als unterlegen und hilflos. Gerade für sie bietet der Klartraum eine im wahrsten Sinne des Wortes fantastische Möglichkeit, Kontrolle in beliebigen Situationen zurückzuerlangen und so Selbstwirksamkeit zu erleben – zumindest in jenen Stunden, da ihre Augen geschlossen sind. Doch es ist kein Geheimnis, dass die nächtlichen Fantasien auch einen Einfluss auf unser waches Leben haben, und umgekehrt.
Hinzu kommt: Die Fähigkeit, klar zu träumen, ist keiner Elite von Glückseligen vorbehalten. Jede und jeder kann mit bestimmten Techniken die Wahrscheinlichkeit erhöhen, einen luziden Traum zu erleben. Längst tauschen sich Hunderttausende Klarträumende in Internetforen darüber aus, welches die besten Methoden sind, um jenen Zustand regelmäßig zu erreichen (siehe Kasten). Wem dies gelingt, der beschreibt den Moment nicht selten als eine Art Aufwachen im Traum. Mit einem Mal ist die Gewissheit da: Ich träume und ich kann in das Traumgeschehen eingreifen. Fast so, als vermischten sich Traum und Wirklichkeit zu etwas Neuem.
Fantastastisches Träumen und logisches Denken kommen zusammen
Forschende erklären diesen Zustand damit, dass das Gehirn von Oneironauten in einen besonderen Modus gerät. Mehrere Hirnareale, die sonst ihre Aktivität herunterfahren, sind bei Klarträumern auffallend rege. Darunter solche, die an der bewussten Planung und Ausführung von komplexen motorischen und intellektuellen Handlungen beteiligt sind. Oder solche, die für Selbstwahrnehmung wichtig sind und an der Bewertung der eigenen Gedanken und Gefühle mitwirken. So kommt es, dass das Gehirn von Klarträumern auch im Schlaf in der Lage ist, logisch zu denken und zu reflektieren. Ist das, was ich hier gerade erlebe, real? Ist es möglich, dass Tiere sprechen oder Autos fliegen? Erst durch diesen „Realitycheck“ fällt überhaupt auf: Es muss sich um einen Traum handeln.
In aufwendigen Experimenten versuchen Schlafforscherinnen und Wissenschaftler das Wesen der Klarträume zu ergründen. Die Probanden verbringen oft mehrere Nächte in Hirnscannern, die Sekunde für Sekunde die Aktivität ihrer Gehirne überwachen. Bei solchen Versuchen geschieht mitunter Verblüffendes: Einige Klarträumer können mit dem Forschungspersonal in Kontakt treten, während sie schlafen.
Das geschieht mit vorher vereinbarten Signalen. Die Träumenden ballen imaginär ihre Fäuste, wenn sie in den luziden Zustand gelangen, oder bewegen hinter den geschlossenen Lidern ihre Augäpfel in einem bestimmten Rhythmus. In einem Versuch eines internationalen Forschungsteams stellten die Wissenschaftler den Schlafenden daraufhin Ja-Nein-Fragen oder ließen sie simple Rechenaufgaben lösen. Die Testpersonen antworteten darauf erneut über vorab vereinbarte und trainierte Signale – so hieß etwa ein Stirnrunzeln „nein“ oder ein zweimaliges Augenrollen „zwei“. Nach dem Aufwachen berichteten manche Proganden, wie sie die Fragen im Traum wahrgenommen hatten: Mal hatten sie eine Stimme aus dem Off gehört, wie die eines Erzählers im Film, mal kam die Frage für sie aus einem Autoradio.
Klartäumer zeigen auch im Wachzustand besondere Fähigkeiten
Unter anderem dank solcher Forschungen haben Fachleute inzwischen einen tieferen Einblick in das Wesen und in die Wirkung von Klarträumen erhalten – wenngleich das Feld noch recht jung ist und das Potenzial der luziden Nachtbilder erst in Ansätzen sichtbar wird. Die Studien legen schon heute einige Zusammenhänge nahe: So verfügen Klarträumer mehr als andere über die Fähigkeit, Probleme besonders kreativ zu lösen, und haben zudem eine sehr ausgeprägte Fantasie. Auch sind sie überdurchschnittlich darin begabt, über sich und die Welt zu reflektieren. Offenbar machen sie sich Erfahrungen sehr bewusst, nehmen auch im Wachzustand vieles sehr intensiv wahr.
Und manche machen sich die Technik gezielt zunutze, um ihre Schöpferkraft zu stärken oder bestimmte Fertigkeiten zu trainieren. Da sind Künstler, die im Klartraum an Kompositionen feilen und Manager, die neue Strategien für ihr Unternehmen ersinnen. Oder Leistungssportler, die im Schlaf komplexe oder riskante Bewegungsläufe trainieren, etwa einen gefährlichen Sprung auf der Skipiste. Nachweislich läuft die entsprechende Motorik dann auch in der realen Welt eleganter ab.
Die österreichische Bewusstseinsforscherin und Gestalttherapeutin Brigitte Holzinger wiederum untersucht, wie sich das Klarträumen in der Psychotherapie einsetzen lässt – und erzielt dabei vor allem Erfolge bei Klienten, die wieder und wieder mit Albträumen zu kämpfen haben, nächtlichen Manifestationen der Furcht. Nahezu jede und jeder kennt sie: Gewalt, Tod, das Gefühl, gejagt zu werden, zu fallen, Hilflosigkeit, Scham, Trauer oder Verlust: In Albträumen kommen unsere tiefsten Ängste und widersprüchlichsten Gefühle zum Vorschein. Vor allem Stress, Sorgen und Traumata können Auslöser für wiederkehrende Albträume sein. Rund 80 Prozent aller Menschen mit Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) sind von quälenden Nachtfantasien betroffen, die meisten leiden auch tagsüber darunter.
Für Brigitte Holzinger bietet das luzide Träumen eine unschätzbare Möglichkeit, den beängstigenden Szenen kreativ zu begegnen. Und so ein Stückweit Autonomie zurückzugewinnen, dem Gefühl der Ohnmacht ein Erleben von Kontrolle entgegenzusetzen. Sie erzählt von einer Patientin, die von ihrem Partner mit einer Pistole bedroht wurde, als sie sich von ihm trennen wollte. Diese Szene ließ sie nicht mehr los, immer wieder begegnete sie im Schlaf ihrem Peiniger. Mithilfe von Klartraum-Erlebnissen gelang es ihr schließlich, die Situation zu verwandeln. Als Regisseurin ihrer Träume ließ sie Bekannte auftauchen, die sie unterstützten. Mit einem Mal stellte sich bei den nächtlichen Begegnungen ein Gefühl der Sicherheit, der Überlegenheit ein: Sie war nicht mehr hilflos und allein. Diese Erfahrung half ihr, ihr Trauma aufzulösen.
Im Klartraum können wir zu überraschenden Erkenntnissen gelangen
Das Geniale ist: Im Klartraum kann jede und jeder einen eigenen Umgang mit belastenden Szenen finden und spielerisch ausprobieren, welche Intervention am besten zu einem passt (alles ist denkbar, alles ist möglich). Das Fühlen, die Bilder aus den Träumen, lassen sich so zusammenbringen mit dem Denken und Handeln, sagt Brigitte Holzinger. Es gehe darum, zu erkennen: Ich bin nicht ausgeliefert, ich habe eine Wahl.
Die kann zum Beispiel auch darin bestehen, sich in bedrohlichen Nachtszenen mithilfe luzider Traumtechnik einen Ort zu suchen, der sicher ist und Geborgenheit schenkt. Ein Ort, von dem aus sich etwa ein furchterregendes Monster gefahrlos beobachten lässt. So hat es eine andere Klientin von Brigitte Holzinger praktiziert, die regelmäßig von einer undefinierbaren grünen Wolke verfolgt wurde. Im Betrachten nahm die Wolke nach und nach Konturen an, wurde kleiner – und verwandelte sich schließlich in ihren Vater. So erst wurde der 17-Jährigen bewusst, dass es ihr Vater war, der sie des nachts beschäftigte und in Form eines verschwommenen Nebels bedrohte.
Dank dieses Aha-Erlebnisses konnte sie im weiteren Verlauf der Therapie ihren seelischen Problemen auf den Grund gehen, die unter anderem in Selbstverletzungen mündeten. Wie ans Licht kam, hatte sich der Vater während der Kindheit nicht nur humorvoll und fürsorglich gezeigt, hin und wieder tickte er aus, wurde gewalttätig und prügelte. Eine traumatische Erfahrung, die sich tief ins Gehirn der jungen Frau eingebrannt hatte und die ihre langen Schatten nun immer weiter verlor. Bis zu einem Punkt, da die Selbstverletzungen stoppten und die Patientin mit einem Studium beginnen konnte.
Ein Klartraum als Therapie-Beschleuniger
Brigitte Holzinger ist überzeugt: Wenn wir unsere Probleme im Schlaf bewältigen, profitiert unsere Psyche auf vielfältigen Ebenen. Wie ein Therapie-Beschleuniger könne eine Erkenntnis wirken, die Betroffene im Klartraum gewinnen – und dann mit in den Alltag nehmen. Die Möglichkeiten scheinen beinahe unbegrenzt. Einem Schichtarbeiter, der unter chronischer Erschöpfung leidet, empfahl sie neulich, sich im Klartraum an einen Ort zu begeben, an dem er besonders gut entspannen und erholen kann. Eine Hängematte am Strand? Ein ruhiger Berggipfel im Abendlicht? Nicht ausgeschlossen, dass solche nächtlichen Exkursionen tatsächlich dazu beitragen, den Geist zu erfrischen.
Ausprobieren und zu neuen Einsichten gelangen, so könnte die Devise des produktiven Klarträumens lauten. Von waghalsigen Seelenexperimenten und vorgefertigten Rezepten hält Holzinger nichts. Es sei gut und wichtig, dass jeder seinen eigenen Umgang mit Belastungen findet und für sich entdeckt, welche individuellen Möglichkeiten luzides Träumen eröffnet. Sie erinnert sich an einen weiteren Patienten, für den die alptraumhaften Szenen, die er regelmäßig erlebte, schon dadurch ihren Schrecken verloren, dass er im Schlaf erkannte: Ich träume ja nur, das geschieht mir nicht wirklich.
Und der plötzlich Gefallen an dem Geschehen fand, sich selbst als Figur in einem spannenden Thriller wiederfand und dazu entschied, einfach gar nichts zu tun: „Das ist der beste James Bond, den ich je erleben kann – warum sollte ich eingreifen?“
Wie sich Klarträumen erlernen lässt
Wie häufig jemand klarträumt, ist höchst unterschiedlich: Manche erleben nur alle paar Monate oder einmal im Jahr einen luziden Traum, andere dagegen mehrmals in der Woche. Einigen ist die Fähigkeit noch aus Kinder- oder Jugendtagen vertraut, wieder andere lernen die Gabe erst im Erwachsenenalter kennen.Pionier der Klartraumforschung ist der US-Psychologe Stephen LaBerge. Der Amerikaner hat eine Methode entwickelt („WILD“: „Wake-Initiated Lucid Dream“, engl. für „vom Wachzustand aus eingeleiteter Klartraum“), die helfen soll, beim Einschlafen sofort in einen Klartraum zu gleiten.Bei dieser Technik geht es darum, nach dem Zubettgehen in einen meditativen Zustand zu gelangen. Dabei soll der Betreffende auf Farbmuster oder andere visuelle Erscheinungen achten, die spontan vor dem inneren Auge auftauchen. Das können wabernde Wellen, sich windende Pflanzen, Gebäude oder unscharfe Silhouetten von Menschen sein.Auf diese Bilder muss man sich während des Einschlafens bewusst einlassen und versuchen, aus den oft willkürlich auftretenden Mustern eine Szenerie und Handlung zu formen. So können zum Beispiel floral anmutende Motive und wolkige Strukturen eine Sommerwiese unter weitem Himmel bilden. Vielleicht tauchen in der Ferne Berge auf, das Ziel einer fiktiven Wanderung. Die Szenerie und die Handlung sollte man so lange bewusst vor Augen haben, bis man wegdämmert. Man hat sie gleichsam in den Schlaf mitzunehmen.Eine andere Technik namens „MILD“ („Mnemonic Induced Lucid Dream“, „gedächtnisunterstützt hervorgerufener Klartraum“) hat zum Ziel, aus einem normalen Traum in den luziden Zustand zu wechseln. Dabei soll man sich zum einen tagsüber möglichst oft bewusst vornehmen, zum Oneironauten zu werden; sich also möglichst oft sagen: Ich will im Schlaf erkennen, dass ich träume, und dadurch in einen Klartraum eintauchen.Zum anderen soll man sich direkt nach dem Aufwachen möglichst genau an einen Traum zu erinnern versuchen. Dabei gilt es, die im Schlaf erlebte Handlung weiter auszumalen: Was hätte im Traum noch geschehen können? Wie hätte eine angenehme Fortführung der Traumhandlung ausgesehen? Wäre ich gern an einen bestimmten Ort gelangt? Hätte ich gern mit einem Tier gesprochen? Oder wünschte ich mir, von einem im Traum erschienenen Platz in die Luft aufzusteigen und davonzufliegen?Während man das Geschehen in Gedanken fortsetzt, soll man sich immer wieder ganz bewusst vorstellen, dass man diesen Traum – gesetzt den Fall, er sollte sich tatsächlich einmal in die nächtliche Fantasiewelt einschleichen – als solchen erkennen wird. Zum Beispiel: Sollte ich einmal träumen, mit einer Katze an einem Swimmingpool zu sitzen und mit ihr über Thomas Mann zu sprechen, dann werde ich ganz klar wissen, dass ich mich in einem Traum befinde.
Die MILD-Methode wirkt ziemlich skurril, und doch zeigt die Erfahrung: Diese Form der Autosuggestion erhöht die Chance deutlich, dass man sich eines Nachts in der fantasierten Geschichte wiederfindet, sie als Traum identifiziert – und in die luzide Welt wechselt.
für GEO plus, Marja Pirilä
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